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Alpines Skifahren
Der Alpin-Star Lucas Pinheiro Braathen im Porträt
Lucas Pinheiro Braathen ist der lebende Beweis dafür, dass man sich selbst treu bleiben und gleichzeitig sportliche Höchstleistungen erbringen kann. In diesem spannenden Porträt erfährst du noch mehr.
Lucas Pinheiro Braathen hat immer schon sein eigenes Ding gemacht und sich von der Masse abgehoben. Als Sohn eines norwegischen Vaters und einer brasilianischen Mutter sagt der 23-Jährige, dass er schon immer ein Außenseiter gewesen ist. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass er bis zum seinem 22. Geburtstag sage und schreibe 21 Mal umgezogen ist. Das machte es für den modernen Nomaden natürlich schwierig, Wurzeln zu schlagen und Freundschaften zu schließen. Er hat auch festgestellt, dass seine südamerikanisch geprägte Mentalität in Norwegens eher konservativer und geschlossener Kultur polarisieren kann.
Er ist aber auch überzeugt, dass seine Persönlichkeit und seine Entschlossenheit, die Dinge auf seine Art zu machen und sich nicht an Normen und Traditionen anzupassen, dazu beigetragen haben, ihn an die Spitze des alpinen Skisports zu bringen. Und es gibt genügend Beweise dafür. In den vier Jahren seit seinem Debüt hat er fünf Weltcupsiege und 12 Podiumsplätze errungen. In seiner besten Saison 2022/23 krönte sich Pinheiro Braathen außerdem zum Slalom-Weltmeister 2023.
Wie es sich für Pinheiro Braathen gehört, folgte er seiner "Philosophie, das zu tun, was mich am glücklichsten macht", und zog sich unmittelbar vor dem Startschuss der Saison 2023/24 aus dem Profisport zurück, weil er seit mindestens sechs Monaten nicht mehr glücklich war. "Ich war in einer Situation, in der ich das Gefühl hatte, dass ich den Grund verloren hatte, warum ich mit dem Skifahren angefangen hatte. Ich brauchte eine Auszeit vom Sport, ich musste Zeit mit mir selbst verbringen und einmal nicht an einen bestimmten Weg oder eine Karriere denken, bevor ich mich entschied, was mein nächster Schritt sein würde."
Erst kürzlich hat Pinheiro Braathen dann erneut für Aufsehen gesorgt, als er entschieden hatte, in der Saison 2024/25 in den Skizirkus zurückzukehren und für Brasilien an den Start zu gehen. "Das ist der Beginn des größten Projekts meines Lebens", sagte er, als er sein Ziel nannte, wieder an die Spitze des Sports zu gelangen. Und eines ist jetzt schon klar: Wenn Pinheiro Braathen sich etwas vornimmt, lässt er nichts unversucht, um dieses Ziel zu erreichen!
Ich möchte ein Vermächtnis hinterlassen, bei dem man sich an mich als jemanden erinnert, der sich selbst immer treu geblieben ist.
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Ein multikultureller Start
Pinheiro Braathen wurde in Oslo, Norwegen, als Sohn eines norwegischen Vaters und einer brasilianischen Mutter geboren. Seine Eltern trennten sich, als er drei Jahre alt war, und Pinheiro Braathen kehrte mit seiner Mutter nach Brasilien zurück, bevor sein Vater das Sorgerecht erhielt und ihn zurück nach Norwegen holte. Seine südamerikanischen Wurzeln hat er jedoch nie vergessen. "Seit ich 11 Jahre alt bin, fahre ich jedes Jahr nach Brasilien zurück. Es ist ein Teil von mir."
Der Einfluss der brasilianischen Kultur ist deutlich zu spüren. Sein zweiter Vorname "Pinheiro" ist portugiesisch für Kiefer und eine Hommage an seine Mutter und sein brasilianisches Erbe. Als Kind träumte er davon, Profi-Fußballer zu werden und einem so spielen zu können wie sein Idol, Ronaldinho.
Sein Vater reist damals von Skigebiet zu Skigebiet auf der Suche nach Jobs, und als er seinen Sohn zum ersten Mal mit dem Skifahren bekannt machte, war Pinheiro Braathen zunächst nicht überzeugt: "Ich habe mir alle möglichen Lügen ausgedacht. Ich sagte ihm: 'Ich bin Brasilianer, das liegt uns nicht im Blut. Ich werde krank, wenn ich diesen Temperaturen ausgesetzt bin. Meine Füße sind für den Strand gemacht und nicht für Hardshell-Boots."
Aber dann sah er eines Tages, als er acht Jahre alt war, eine Gruppe von Skirennfahrern auf dem Berg und sein Leben änderte sich für immer. "Ich war beeindruckt davon, wie schnell sie fuhren. Ich sagte meinem Vater, dass ich das auch machen wollte. Am Ende dieses Winters liebte ich das Training so sehr, dass ich gar nicht mehr aufhören wollte", sagte er 2023 im Interview mit Red Bulletin.
Während er seine neue Leidenschaft auf der Piste gefunden hatte, war das Leben abseits der Piste für Pinheiro Braathen nicht ganz so einfach. Die ständigen Veränderungen, die das Berufsleben seines Vaters mit sich brachte, führten dazu, dass er sich "nirgendwo zu Hause fühlte - nicht in einer Gruppe von Freunden, nicht in einer Stadt, nicht in einer einzigen Schule. Kaum hatten wir uns irgendwo niedergelassen, zogen wir wieder um".
Damals hasste er es und versuchte, sich anzupassen - "ich versuchte, im jeweiligen Akzent zu sprechen und imitierte ihr Verhalten". Aber irgendwann gab er auf. "Ich hatte meine Persönlichkeit, meinen Akzent und meine Interessen so oft geändert, nur um sie dann wieder zu verlieren. Also hörte ich auf und lernte stattdessen, ich selbst zu sein."
Heute ist er sehr dankbar dafür, dass er schon in jungen Jahren seine eigene Persönlichkeit entdeckt hat, und diese Erfahrung hat ihn auf und neben der Piste geprägt.
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Der Weg ins Starthäuschen
Als Pinheiro Braathen im Alter von acht Jahren das Skifahren für sich entdeckte, war er bald süchtig danach. Aber es war nicht nur das Bedürfnis nach Geschwindigkeit und Adrenalin.
Während eines Gruppentrainings auf einem Gletscher im Sommer merkte er zum ersten Mal in seinem Leben, dass er kein Außenseiter war. "Es brachte Norweger aus allen Teilen des Landes zusammen. Alle sprachen in einem seltsamen Dialekt, den andere nicht kannten. Plötzlich war es cool, anders zu sein. Deshalb habe ich mich in diesen Sport verliebt. Nicht wegen der blauen und roten Tore."
Im darauffolgenden Herbst, nach einem Ausflug auf den Hintertuxer Gletscher in Österreich, hängte er seine Fußballschuhe endgültig an den Nagel. "Ich träumte zwar davon, der Beste der Welt zu werden, aber ich wollte der Beste der Welt in einem Sport sein, in dem ich ich selbst sein kann."
2016 nahm er an den nationalen norwegischen Juniorenmeisterschaften teil, und nur ein Jahr später gelang ihm der erste Sieg. Der große Durchbruch kam jedoch erst 2018 bei den norwegischen Meisterschaften. Der 18-jährige Pinheiro Braathen zeigte die Leistung seines Lebens und wurde Zweiter im Riesenslalom, zwei Hundertstelsekunden hinter dem Ersten und vor etablierten Namen wie Henrik Kristoffersen.
Der vierfache Olympiasieger Kjetil André Aamodt erkannte Pinheiro Braathens Begabung und Hingabe und empfahl dem Nationalteam, so schnell wie möglich mit ihm zu arbeiten. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.
Noch im selben Jahr gab er sein Weltcup-Debüt und belegte bei seinem allerersten Wettkampf in Val d'Isere Platz 26. Nur 12 Monate später meldete er sich auf der Weltbühne zurück - beim Slalom in Kitzbühel lag er in Führung, musste sich am Ende aber mit Platz vier begnügen. Aber der erste Sieg ließ nicht lange auf sich warten: Beim Saisonauftakt 2020/21 ließ er im Riesenslalom in Sölden alle hinter sich und katapultierte sich nach ganz oben.
Eine Verletzung verkürzte den Rest der Saison, aber für 2021/22 kehrte er fit zurück, gewann den Slalom in Wengen und belegte mit drei weiteren Podiumsplätzen jeweils den vierten Platz im Slalom und im Riesenslalom sowie den neunten Platz in der Gesamtwertung.
Die Saison 2022/23 festigte schließlich seinen Platz als einer der besten Alpinskifahrer der Welt: Mit drei Siegen und vier Podiumsplätzen sicherte er sich den Slalom-Weltcup 2023.
Seine aktuelle Mission ist klar: Möglichst viele Siege und Podiumsplatzierungen unter brasilianischer Flagge zu feiern.
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Leidenschaft für Mode
Pinheiro Braathen ist für seine Heldentaten abseits der Pisten genauso bekannt wie auf der Piste. Er ist ein Multitalent, das nichts lieber tut, als die Welt zu bereisen, Partys zu veranstalten, die Ausstellungen seiner Freunde zu besuchen und Mode zu entwerfen. Seine Persönlichkeit trägt er offen in die Welt hinaus -- manchmal mit Moon-Boots an den Füßen.
Die Schuhe sind zu einem ikonischen (und manchmal umstrittenen) Accessoire auf Podien in ganz Europa geworden, aber er glaubt, dass sie mit seinen Wurzeln verbunden sind. "Sie waren eine Chance, ein Zeichen zu setzen und sich in einem Umfeld abzuheben, in dem alle die gleichen konservativen Rennanzüge tragen", sagte er in einem Interview mit 032c.com.
"Als ich anfing, als Profi Rennen zu fahren und auf internationaler Ebene zu gewinnen, habe ich immer darauf geachtet, mit meinen Moon Boots auf das Podium zu springen. Sie erinnerten mich daran, woher ich kam und waren ein Teil davon, wie ich zu dem Athleten wurde, der auf der ganzen Welt Rennen gewinnt.
Dem Red Bulletin erklärte er, dass das Skifahren "nur eine von vielen Quellen des Glücks" ist. Seine anderen Leidenschaften sind eine willkommene Abwechslung zum ständigen Streben nach Siegen und bieten gleichzeitig Einfluss und Inspiration.
"Wenn die Skisaison vorbei ist, muss ich mich so schnell wie möglich von meinem Leben als Profisportler entfernen können, um später motiviert zurückzukommen. Jeder Tag, den ich mit Freunden verbringe, die nichts mit dem Skifahren zu tun haben, macht mich zu einem besseren Skifahrer. Jeder Tag, an dem ich ich selbst sein kann, mich feminin kleide, surfe, skate oder zu einer Ausstellung gehe, ist eine Erfahrung, die mir auch in meinem Sport hilft."
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Das Unmögliche überwinden
Bei einem seiner fünf Siege gelang es Pinheiro Braathen, den Rekord für den größten Sprung nach vorne zu machen und sich den Sieg zu sichern. Nach einem enttäuschenden 29. Platz im ersten Durchgang des Slaloms in Wengen, 2022, zauberte er einen fulminanten zweiten Lauf in die Schweizer Berge und holte sich den Sieg.
Mittlerweile wurde dieser Rekord von Daniel Yule gebrochen, der beim Slalom in Chamonix den Sprung von Platz 30 auf 1 schaffte.
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Die Zukunft ist grün, gelb und blau
Nachdem er seine Rückkehr in den Sport unter der brasilianischen Flagge angekündigt hatte, setzte sich Pinheiro hohe Ziele.
"Brasilien hatte immer einen großen Einfluss darauf, mich zu dem Menschen und Athleten zu machen, der ich bin. Die Möglichkeit, 200 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer bei Weltcups, Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zu vertreten, ist ein wahr gewordener Traum."
Aber seine Ziele sind nicht nur leistungsorientiert. "Ich habe viele Ziele. Aber nur bei einem davon geht es um Ergebnisse. Mein zweites Ziel ist es, dem Sport etwas zurückzugeben, denn er ermöglicht mir das Leben zu leben, das ich so sehr liebe.
"Ich möchte ein Vermächtnis hinterlassen, bei dem man sich an mich als jemanden erinnert, der sich selbst immer treu geblieben ist. Mein größtes Ziel ist, dass ich dem Sport zu mehr Vielfalt und mehr Akzeptanz für Unterschiede verhelfe.
"Ich hoffe, dass die Tatsache, dass ich für Brasilien an den Start gehe, Menschen aus Ländern, die nicht so stark vertreten sind, dazu ermutigt, sich zu trauen, es zu versuchen. Wenn ich nur ein einziges Kind davon überzeugen kann, es zu versuchen, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt. Es wäre unglaublich schön, wenn es ein Brasilianer wäre, der nach mir kommt und in meine Fußstapfen tritt.
"Ich möchte diesen Sport verändern, indem ich ich selbst bin. Ich will meine Persönlichkeit nicht zügeln müssen, nur weil das System es von mir erwartet. Und ich hoffe, dass ich auf diese Weise jemandem eine Inspiration sein kann. Ein Junge, der sich die Nägel lackieren will, traut sich vielleicht endlich, es zu tun, genau wie ich. Ein Junge, der sich feminin kleiden will, traut sich vielleicht tatsächlich, das zu tun. Oder er vertritt eine bestimmte politische Haltung, auch wenn die Menschen um ihn herum seine Meinung nicht teilen. Die Sportwelt ist oft sehr konservativ, streng und einschränkend. Ich bin nicht stark genug, um uns allein von diesen Fesseln zu befreien, aber wenn ich als eine Art Inspiration dienen kann, um den Sport ein wenig toleranter, bunter und vielfältiger zu machen, würde mich das viel glücklicher machen als jeder sportliche Erfolg."