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Marcel Hirscher als Kolumnist in neuer Mission.
© Joerg Mitter/Red Bull Content Pool; Ben Tallon
Ski
Marcel Hirschers Kolumne: „Skirennen müssen langsamer werden"
Hier schreibt unser neuer Kolumnist Marcel Hirscher über sein ganz persönliches Sport-Jahr.
Autor: Marcel Hirscher
5 min readPublished on
Und plötzlich Kolumnist. Für The Red Bulletin darf ich über den Sport, das Leben und die Welt philosophieren. Mich überkommt die übliche Aufregung am Start – ist es doch eine Premiere, auf der anderen Seite zu sitzen: Ich bin jetzt nicht mehr der, über den geschrieben wird, sondern selbst der Schreiber. Nachdem sich der WM-Winter der Ziellinie nähert, bleibe ich auf meinem Terrain – dem Schnee und den Skiern.
2 MinMarcel Hirscher über seine erste Kolumne in The Red Bulletin
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Vor genau einem Jahr habe ich mich, nach fünf Jahren Pause, zu einer Rückkehr in den Rennsport entschlossen. Bereut habe ich die Entscheidung nie. Denn um mein Herzensprojekt herum ist ein Team entstanden und um dieses Team ein Ökosystem an Wegbegleitern, Partnern und Ermöglichern. Tausend Dank an alle, die mit mir (m)einer Vision gefolgt sind – und das noch immer tun. Neun Monate lang durfte ich ein ­Athlet sein, der über Jahre nur in meiner Vorstellung existiert hatte: der erste Rennläufer im Weltcup mit eigener Be­kleidung, eigenem Rennmaterial (VAN DEER Red Bull Sports) und eigener Race-Infrastruktur. Für mich die Erfüllung eines Bubentraums, ein Novum im Skirennsport, vielleicht sogar ein Stück Zukunft – ­jedenfalls war, ist und bleibt dieser Traum jede Mühe wert! Vielleicht lässt er ja auch den einzigen kleinen Wermutstropfen der letzten Monate verdunsten, diesen verflixten Kreuzbandriss.
Der Wiedereinsteiger in mir wäre zwar gerne einige Rennen mehr gefahren und nochmals WM-Teilnehmer im eigenen Land gewesen: Mit dem Abstand von drei Monaten und erfreulichen Heilungsfortschritten fühlt sich das disruptive Ende aber bereits jetzt nicht mehr nach emotionalem Beinbruch, sondern lehrreicher Erfahrung an. Meine Stimmungslage: Alles wird wieder gut! Ich war erfreulicherweise nicht der Einzige, der auf die Rennstrecke zurückgekehrt ist: Die Comebacks von Lindsey Vonn und Lucas Pinheiro Braathen haben den Skisport und die gesamte Szene enorm bereichert – es bleibt zu hoffen, dass andere diesem Beispiel folgen. Mit meinem „Kniefall“ war ich bedauerlicherweise auch nicht der Einzige: Beim Saisonhöhepunkt, der Ski-WM in Saalbach, waren zwei Dutzend Ath­letinnen und Athleten verletzungsbedingt zum Zuschauen verurteilt. Sind das viele, bei ­ungefähr 75.000 Knie-OPs und 10.000 Kreuz­bandrissen pro Jahr allein in Österreich?
Meine Antwort: Ja. Wenn sich zehn Prozent der Weltelite in einer Sportart im Verletzten­status befinden – Langzeit-Genesende wie Max Franz und Aleksander Aamodt Kilde nicht mitgerechnet –, dann ist das viel zu viel. Wir werden diesmal also nicht nur positive Vibes in die Off-Season mitnehmen, sondern auch die Frage, wie der Sport wieder sicherer werden kann nach dieser Crash-Saison.
Es wird eine schwierige Diskussion werden. Skifahren ist nicht Schach, das wird auch in Zukunft so sein. Mit Geschwindigkeiten wie im Motorsport und g-Kräften vom Drei- bis Vierfachen des Körpergewichts (und das auf blankem Eis) sind Stürze und Verletzungen leider vorprogrammiert. Crash-Simulationen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit und der TU Graz haben gezeigt, dass ein Aufprall mit 50 km/h ­einem Sturz aus zehn Meter Höhe entspricht.
Es wird nach dieser Crash-Saison strengere Regeln brauchen. Warum nicht 10 km/h weniger im Weltcup? Außer den Athleten merkt das niemand.
Marcel Hirscher plädiert für weniger Speed im Ski-Sport
Der Rest ist eine simple Hochrechnung: Was im Ortsgebiet Höchstgeschwindigkeit ist, ist im Skiweltcup allenfalls in den langsameren Slalom-Passagen Mindestgeschwindigkeit. Im Riesen­torlauf werden bei extremen Radien 60 bis 90 km/h ­erreicht, im Super-G 100 bis 130 km/h, in der ­Abfahrt zeigen die Messungen mitunter 150, ja sogar 160 km/h an.
Dem Vernehmen nach haben bei der Abfahrt am Lauberhorn zehn Athleten den alten Strecken­rekord unterboten, obwohl die Strecke um GPS-vermessene 300 Meter länger war. Logisch also, dass Schuh, Bindung, Platte und Ski – das Set-up, von dem alle immer reden – immer aggressiver werden (müssen), um Speed und Kräfte noch ­einigermaßen beherrschbar zu halten. Logisch leider auch, dass Knochen, Sehnen, Knorpel zur Sollbruchstelle werden, immer öfter (wie auch in meinem Fall) ohne Sturz, in einer Millisekunde der Überlastung. Tausend Mal ist nichts passiert – und dann hat’s „Zoom!“ gemacht … leider im Magnetresonanztomographen.
Die gute Nachricht: Gerade weil im Skirennsport alles derart ans Limit geht, ist auch alles eine Stellschraube, an der sich in Bezug auf die  Sicherheit drehen lässt. Es beginnt bei der Planung der Rennkalender, betrifft Pistenpräparierungen und Kurssetzungen und reicht hinein bis in den Materialbereich mit Ski-Aufbauten, Set-up, Tuning, Anzugmaterialien, Airbags, ­Helmen und innovativen Protektor-Systemen, wie sie anders­wo bereits erfolgreich eingesetzt werden. Es ist klar, dass etwas geschehen muss, auch die Notwendigkeit strengerer Regeln ist ­evident: Man stelle sich etwa die Formel 1 ohne Restriktionen vor. „Fahrts halt vorsichtiger!“: Das liegt – Eigenverantwortung hin oder her und unabhängig von der Sportart – nun einmal nicht im Naturell von Rennläufern und Herstellern.
Es bedarf dringend der Evaluierung und ­Reflexion, wie weit das Risiko zugunsten der Attraktivität des Sports gehen darf und wo es anfängt, kontraproduktiv zu werden. Meine persönliche Meinung: 10 km/h weniger auf der Piste merkt niemand, außer den Athleten, weil sich die Kräfteverhältnisse ändern. Skifahren ist von seinen Einflussfaktoren her so komplex, dass mehrere kleine Maßnahmen in Summe große ­positive Wirkung entfalten können. Denn in einem sind sich alle einig: In einer Zeit, in der sich der Skirennsport auf vielen Ebenen ändern muss, um bereit für die Zukunft zu sein, braucht es die Stars auf der Piste – und nicht mit geschwollenem Knie daheim auf der Couch.
Anders als manche Kollegen bin ich optimistisch, dass der Paradigmenwechsel hin zu „Der Skisport muss langsamer werden“ gelingen kann. Die besten Köpfe denken gemeinsam darüber nach, wie unser Sport sicherer und attraktiver werden kann. Die Bereitschaft, allparteiliche, kreative Lösungen zu finden und außerhalb der Piste Kooperation über Konkurrenz zu stellen – zwischen Verbänden, Sparten, Herstellern, Austragungsorten, Wirtschafts-, Werbe- und Medienpartnern –, wird mit Sicherheit für alle großen Zukunftsfragen des Skisports entscheidend sein. Es ist viel erreicht und viel zu tun, um dieses ­alpine Kulturgut mit seiner Tradition, Inspirationskraft und all seinen positiven Effekten weiterzuentwickeln.
Und was mich persönlich anlangt: Kreuzbandriss hin oder her – ich weiß, dass der Skisport mein persönlicher Passion Place bleiben wird. Ob auf oder abseits der Rennpiste, das wird sich noch zeigen.
Teil dieser Story

Marcel Hirscher

Achtfacher Gesamtweltcupsieger, sechsfacher Slalom- und RTL-Gesamtweltcupsieger, siebenfacher Weltmeister, zweifacher Olympiasieger. Dann der Rücktritt, bald folgt das Comeback - für die Niederlande.

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Lucas Pinheiro Braathen

Lucas Pinheiro Braathen, bekannt für sein Charisma und seine Exzentrizität, ist ein alpiner Weltklasse-Skifahrer, der es liebt, Stereotypen zu trotzen und den Samba auf den globalen Pisten verkörpert.

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Lindsey Vonn

Alpine skiing legend Lindsey Vonn remains as determined and inspiring as ever. Now, after retiring from one of the sport's greatest careers six years ago, she has returned to the World Cup.

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