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Ski
Schnee von morgen: Die Zukunft des Skisports
Globaler, individueller, mehr Hightech und hautnah erlebt auf Social Media: Fünf Thesen, wie sich der Skisport neu erfindet. U.a. mit Marcel Hirscher, Mikaela Shiffrin und Lucas Pinheiro Braathen.
Der Skisport braucht moderne Helden, Storys jenseits von Sieg und Niederlage. Aber vielleicht ist der Skisport generell an einem Scheideweg: Wie wird er zugänglicher? Wie positioniert er sich in einer globalen Welt? Und natürlich: Wie gehen die Sportler mit ihren Fans um?
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Neue Länder entdecken den Skisport und machen ihn wirklich global
Holland gegen Brasilien: Was klingt wie ein Fußballspiel, könnte schon bald Fans einer ganz anderen Sportart begeistern. Wenn Marcel Hirscher für die Niederlande startet und Lucas Pinheiro Braathen für Brasilien, dann hat das Kult-Potenzial unter Ski-Fans. Dazu muss man sich bloß die Wucht von Max Verstappens „Orange Army“ auf der einen Seite und die Begeisterung der brasilianischen Fans auf der anderen vorstellen. Dass zwei der besten Skisportler nun just für zwei Länder mit der vielleicht größten Sportbegeisterung starten, ist ein Glücksfall für den alpinen Skisport.
Lucas Pinheiro Braathen: „Es ist ein spannendes Jahr mit Marcels und meinem Comeback und zwei neuen Nationen im Sport. Eine coole Möglichkeit und eine größere Bühne für den Sport.“
Marcel Hirscher: „Niederländer verbringen schon jetzt 6,7 Millionen Nächte in Österreichs Skiorten. Wenn ich mithelfen kann, dass aus der Skibegeisterung noch mehr wird, würde es mich freuen. Bezüglich Fankultur sind die Niederländer Wahnsinn, quer durch alle Sportarten. Sölden hat das gleich super übersetzt: Sie haben mit Porträtbildern holländischer Fans oberhalb des Zielgeländes aus riesigen Pappkameraden eine Orange Army gebastelt. Mega Idee! Prinzipiell passt das durchgehend positive Echo auf mein Projekt und auf das von Lucas für Brasilien mit meiner Wahrnehmung zusammen: Irgendwie scheinen die meisten gut zu finden, dass das gerade passiert.“
Ursprünglich hat die sportliche Laufbahn des Halbbrasilianers Braathen gar nicht mit Skifahren begonnen, sondern wie die von Abertausenden seiner insgesamt 200 Millionen Landsleute mit Fußball. „Meine Liebe zum Sport hat in São Paulo begonnen. Jetzt schließt sich der Kreis, wenn ich unter der brasilianischen Flagge im Skizirkus starte.“ Und Braathen wäre nicht Braathen, würde er nicht weiterdenken, außerhalb seines eigenen Kosmos: „Ich hoffe, dass ich eine Inspiration sein kann für Menschen, eigene Wege für ihre Erfolge zu suchen. Mit dem brasilianischen Ski-Verband habe ich bereits über Camps für Nachwuchsfahrer gesprochen. Mein persönliches Ziel ist, die brasilianische Flagge auf ein Ski-Podium zu tragen und bei der WM in Saalbach-Hinterglemm Edelmetall für Brasilien zu holen.“
Brasilianische Journalisten fragen mich, ob es beim Skifahren nicht kalt wird.
Bei Medienterminen erklärt Braathen nun nicht mehr technische Details, sondern zeichnet das große Bild: „Brasilianische Journalisten fragen mich, ob es beim Skifahren nicht kalt wird. Horizonte zu erweitern – das finde ich cool!“ Seine brasilianische Oma verstünde erstmals, was er genau macht, seit sie seine Pressekonferenz im brasilianischen Fernsehen verfolgt habe, schmunzelt Lucas. Einen Fan hat Braathen jedenfalls schon gewonnen: Kein Geringerer als Fußball-Superstar Neymar Jr. gratulierte ihm höchstpersönlich zum Comeback. Marcel Hirscher: „Seien wir ehrlich: Dem Skisport kann mehr Internationalität und Aufmerksamkeit wirklich nicht schaden.“
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Athleten werden selbständig und zeichnen ihr eigenes Bild
Lucas Braathens Rückzug aus dem Sport war ein Signal: Einer der vielversprechendsten Athleten verkündete, als seine Karriere so richtig in Schwung kam, den Rücktritt – ohne Sicherheitsnetz, ohne weichen Boden, auf den er fallen konnte: „Es war beängstigend, so ganz ohne Universitätsabschluss, ohne Plan B. Aber es war die richtige Entscheidung. Dieses eine Jahr war kompliziert, es war auch cool und spannend. Mein Herz war aber noch immer im Skisport.“ Heute steht ein anderer, reiferer Braathen am Start. Einer, der sich selbst besser kennt, der genau weiß, was er will. „Ein Produkt dieser neuen Erfahrungen“, wie er selbst sagt.
Es gibt Athleten, die ticken anders als der Mainstream. Der Finne Kalle Rovanperä zum Beispiel legte als Rallye-Weltmeister ein Sabbatical ein, weil er sich dem Druck einer kompletten WM-Saison nicht länger aussetzen wollte. Lucas Braathen sieht das ähnlich, quasi von Skandinavier zu Skandinavier: „Mein Ziel war es nie, möglichst viele Rennen zu gewinnen. Ich wollte eine andere Geschichte erzählen.“ Nämlich eine Geschichte der Veränderung – und zwar des gesamten Systems. Er will Strukturen aufbrechen. Dass er dabei in keine Kategorisierung passt, ist ihm nur recht: „Ich passe nirgendwo rein. In Norwegen bin ich der Brasilianer, in Brasilien der Gringo“, sagt er lachend.
Mikaela Shiffrin, die erfolgreichste Skifahrerin, die es je gab, macht kein Geheimnis daraus, dass ihre dunkelsten Tage Ende Jänner kommen, „wenn ich das Gefühl habe, schon so lange von zu Hause weg zu sein und noch so viel Saison vor mir zu haben“. Das offen zu thematisieren, anstatt die Unverwundbare zu spielen: noch vor wenigen Jahren undenkbar. Oder in Videos auf Social Media zu sagen, dass man den Geruch von Champagner nicht ausstehen kann. Shiffrin lebt unverblümte Ehrlichkeit in ihrem Auftritt auf Social Media, bis hin zum Thematisieren des weiblichen Zyklus: „Ich musste in diese Rolle hineinwachsen. Und ich bin froh, in einer Zeit zu leben, in der ich direkt mit meinen Fans kommunizieren kann.“ Dass Shiffrin ihre Fans ungefiltert an ihrer Lebensrealität teilhaben lässt: was für ein wohltuender Gegensatz zu den weichgespülten Stehsätzen, die viele ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger abzuspulen gelernt haben!
Eine Ausnahme war von Anfang an Marcel Hirscher: „Individualität und Gestaltungsfreiheit sind hohe Werte für mich. Der Skirennläufer sein zu dürfen, der ich immer sein wollte, frei, im eigenen Team, mit eigenem Gewand und eigenem Skimaterial – das war längste Zeit eine Utopie. Jetzt ist sie tatsächlich Wirklichkeit geworden.“
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Das Material wird noch mal besser und wir alle profitieren davon
Es begann mit dem taillierten Carving-Ski, einer Entwicklung, die vom Snowboard kam: Plötzlich waren ganz andere Kurvenradien möglich. Dazu kam die geringere Länge, was den Kraftaufwand in Kombination mit der Taillierung drastisch reduzierte. Plötzlich machte Skifahren auch ohne Hermann-Maier-Schenkel Spaß! Ein anderer limitierender Faktor war die Schräglagenfreiheit: Der Schuh streifte im Schnee. Lösung: Bindungsplatten, die einerseits für Freiheit in den Kurven sorgten und andererseits den Druck ideal verteilten.
Nun steht die nächste Revolution vor der Tür. In den Labors wird am dritten Bauteil getüftelt: dem Skischuh, dem noch immer ungeliebtesten Teil jedes Skiurlaubs. Klobig, selten bequem, irgendwie ein bisschen so wie immer. Marcel Hirscher, der mit VAN DEER-Red Bull Sports gerade an einem Skischuh nach eigenen Vorstellungen feilt, der schon 2025 auf den Markt kommt, geht ins Detail: „Zu den allgemein bekannten Kategorien – Passt er? Drückt er? Krieg ich ihn zu? Frier ich mir die Zehen ab? Gefällt er mir? – kommt eine enorme Komplexität. Ich versuche, es halbwegs einfach auf den Punkt zu bringen: Im Idealfall ist der Schuh die Synchronisation aus Biomechanik, Fahrstil, Bindung, Platte und Ski, im übertragenen Sinn der Serverraum, in dem alle ‚Datenleitungen‘ zusammenkommen.
Auf den ersten Blick sind es nur ein paar Einzelteile – Schale, Manschette, Schnallen, Innenschuh, Powerstrip (das Bandl oben; Anm.). Auf den zweiten Blick eröffnen sich daraus Hunderte von Konfigurationsmöglichkeiten. Unterschiedliche Plastikmischungen für die Härte, Formstabilität, Absorbtionsverhalten, verschiedene Sprengungen, Cantings, Höhenregulierungen. In vielen Arbeitsgängen wird der Kunststoffschuh zu einer millimetergetreuen Außenhülle für den Fuß, die schützt, steuert und hilft, zu beschleunigen. Ein intelligenter Skischuh managt Schockabsorption, Schwungansteuerung, Beschleunigung, Körperposition.“ Generell wird bei VAN DEER Qualität radikal demokratisiert, sagt er: „Bei uns gibt’s von vornherein nur High End für alle. Ist ein bissl teurer, macht aber am Ende länger Freude. Deshalb wenden wir dieses Prinzip auch auf unsere Kinderski an. Gerade Kids sollen positive Referenzerfahrungen sammeln.“
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Karrieren dauern künftig länger und Rekorde werden pulverisiert
Die Einführung der Wild-Card-Regel ermöglicht es verdienten Rennfahrern, ohne den Umweg über kleinere Rennen, in den Weltcup zurückzukehren. Oberflächlich betrachtet: eine Regel, maßgeschneidert für Marcel Hirscher. Aber beim Blick über den Tellerrand erkennt man, dass der Trend zu längeren Karrieren – mit oder ohne Unterbrechung – aufgrund besserer Vorbereitung, höherer Fitness und größerer Professionalität sportartenübergreifend zu beobachten ist. Fernando Alonso zog sich ein paar Jahre aus der Formel 1 zurück, startete bei der Rallye Dakar und in Le Mans, um mit 43 Jahren seinen 400sten Formel-1-Grand-Prix zu bestreiten; Ende: nicht in Sicht. Der Russe Alexander Owetschkin jagt in der NHL mit seinen 39 Jahren den Allzeit-Torrekord von Wayne Gretzky im Eishockey. Basketballer LeBron James stand in der NBA kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag jüngst mit seinem Sohn Bronny gemeinsam am Court – und holte deutlich mehr Punkte als dieser. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Was ist unerlässlich für eine erfolgreiche, nachhaltige Karriere jenseits der 35, Marcel Hirscher? „Reife hilft! Bei mir gab’s früher nur Push-Push-Push. Das ist eh lang gegangen, aber ein nachhaltiges Modell ist es nicht. Je älter ich geworden bin, desto wichtiger ist mir meine ganzheitliche Gesundheit geworden – Schlaf, Ernährung, Stressregulation, Regeneration, kardiovaskuläre Fitness. Ein Organismus braucht ein gutes Umfeld, um leistungsfähig zu sein, sonst performt man auf Kredit. Ich mache mittlerweile ziemlich viele Dinge anders als in der wilden Zeit. Mit 35 Jahren muss ich es insgesamt smarter angehen als vor 10, 15 Jahren.“
Ans Siegen kann man sich nicht gewöhnen. Ich bin heute so motiviert wie mit 16 Jahren.
Wo liegt das Limit der Siege? Rekordhalterin Shiffrin: „Ans Siegen kann man sich nicht gewöhnen. Das Thema ist einfach noch nicht erledigt für mich. Ich bin heute so motiviert wie mit 16 Jahren. Für mich ist Skifahren die Möglichkeit, den lautesten Platz der Welt in einen ruhigen zu verwandeln. Alles ist hektisch wie auf einem Bahnhof, aber in dir ist absolute Ruhe.“ Braathen: „Der Moment des Sieges unten im Ziel mit den Fans ist so speziell. Das kriegst du sonst nicht im Leben. Das war es, was mir in diesem Jahr ohne Rennen gefehlt hat.“
Bei den letzten sechs Weltmeisterschaften hat Mikaela Shiffrin jeweils Gold gewonnen. Was würde ihr eine siebte Medaille in Saalbach 2025 bedeuten? „Ich sehe die sechs Goldenen als Erfolg, als abgeschlossenes Kapitel. Klar wäre es cool, die Serie zu verlängern. Aber noch fühle ich den Druck nicht.“
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Skifahren wird bunter und die Stars werden zugänglicher
Für Lucas Pinheiro Braathen ist Skifahren der kompletteste Sport der Welt: „Technik, Strategie, Ausdauer, Kraft, Koordination, Akrobatik: Skifahren ist alles.“ Jetzt geht es darum, diese Besonderheiten abseits des Zielraums zu kommunizieren. Eine bunte Persönlichkeit wie Braathen, mit seinen lackierten Fingernägeln, seinen Samba-Tänzchen und seiner Offenheit, Themen geradeaus anzusprechen, passt in eine moderne, diverse Welt. Die Botschaft, dass es okay ist, anders zu sein, wurde im konservativen Skisport oft nicht gern gehört. Doch die Zeit ist reif für Stimmen wie jene Braathens, der als zwei seiner sportlichen Vorbilder die bunten Vögel Alberto Tomba (Ski) und Dennis Rodman (Basketball) nennt, außerdem Apple-Gründer Steve Jobs mit dessen Mantra „Think different“.
Das bedeutet, dass sich erfolgreiche Athleten künftig abheben müssen von den drögen Interviews mit den immer gleichen Antworten auf die immer gleichen Fragen. Gefragt ist der aufgeweckte, kluge Sportler, der zu seinem Standpunkt steht und ihn mit seinen Fans teilt. Man mag von Social Media halten, was man will, aber wenn ein Athlet, eine Athletin eine Botschaft unters Volk bringen will, hat er oder sie heute – im Unterschied zu früheren Jahren – die Chance dazu.
Und es bedeutet, sich abseits des Rennzirkus für andere Aktivitäten zu öffnen. Die Renn-Ambitionen von Marcel Hirscher auf zwei und vier Rädern sind bestens dokumentiert. Lindsey Vonn scheute weder zu ihrer aktiven Zeit noch heute vor Interaktion mit anderen Celebritys und Promis zurück. Und Mikaela Shiffrin nutzte den letzten Sommer, um die Olympischen Spiele in Paris, die Tennis-US-Open oder die Fashion Week zu besuchen und dort Designer zu treffen: „Ich musste lernen, dass es okay ist, sich für mehr als nur meinen Sport zu interessieren – selbst wenn Skifahren natürlich mein Lebensmittelpunkt ist.“ Und sie macht das mit Absicht: „Die Entwicklung eines Sportlers ist nie linear. Einflüsse von außen können dir eines Tages helfen, mit neuen Situationen umzugehen.“
Auch der Skisport braucht Helden, Erzählstränge. Der Kampf Alt gegen Jung ist so einer, der weit über die Kernklientel hinausgeht. Dass es zu einem sportlichen Aufeinandertreffen zwischen Braathen und seinem Idol Hirscher kommt, ist für den Neo-Brasilianer „ein Traum, der in Erfüllung geht“. Hirscher hingegen stapelt tief: „Lucas setzt seine Karriere nach einem Jahr Pause mit neuem Esprit fort – meine Karriere war schon. Ich hab ein Herzensprojekt am Start, fahre noch Rennen, solange es mich freut und es für mich Sinn ergibt. Das hat eine unterschiedliche Widmung. Aber natürlich versuchen wir beide, so schnell wie möglich den Hügel runterzukommen – und ob das noch mal wirklich ein Duell wird, wird sich zeigen.“
Mikaela Shiffrin sieht den Skisport seit ein paar Saisonen generell an einem Scheideweg: „Wie positionieren wir uns in einer globalen Welt? Wie wollen wir mit unseren Fans umgehen? Gerade in Amerika ist die Verbindung nicht so stark, wie ich sie gerne sehen würde. Meine Vision ist, Schneesport – nicht nur den alpinen Rennsport – zugänglicher zu machen, interessanter für mehr Menschen.“ Und dann, nachdenklich: „Außerdem ist die große Frage, wie wir Skifahren nachhaltiger gestalten können. Wir leben von der Umwelt, vom Schnee. Alle sehen, dass die Winter kürzer werden. Wie können wir Umwelt und Sport unter einen Hut bringen? Wir kennen die Antwort noch nicht, aber die Frage liegt auf dem Tisch.“
Moderne Athleten stellen sich nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Zukunft. Auch das lernt der Skisport gerade.
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