Want to see content from United States of America

Continue
Basketballspiel im Käfig an der West 4th Street in New York.
© Anthony Geathers
Basketball
The Cage: Ein Käfig voller Helden
West 4th Street ist New Yorks legendärster Basketballplatz. Zu Besuch bei „The Cage“ – ein Ort, der für viel mehr steht als Sport.
Autor: Dave Howard
9 min readPublished on

Der Platz ist klein

Der Platz ist klein. Das ist das Offensichtliche, wenn man den West 4th Street Park in New York City betritt. Würde man die Drei-Punkte-Linie auf NBA-Distanz setzen – als Zugeständnis für die Profis, die hier manchmal trainieren –, läge sie fast schon am Mittelkreis. Schaut man sich eines der grossen Summer-Leagues-Matches im Cage an, dem «Käfig», wie dieser sagenumwobene Platz genannt wird, kommt es einem vor, als hätten Riesen einen Kinderspielplatz überrannt.
Basketball-Cracks beim Einlauf zu einem Summer-Leagues-Playoff-Match 2016.
Basketball-Cracks beim Einlauf zu einem Summer-Leagues-Playoff-Match 2016.© Anthony Geathers
Versucht man herauszufinden, inwieweit die Masse des Platzes tatsächlich von den regulären abweichen, wird es interessant. Google wirft unterschiedlichste Schätzungen aus, von «ein bisschen kleiner als die Norm» (das steht auf der offiziellen Homepage des New Yorker Parks) bis hin zur «Hälfte des Standards von 94 Fuss» (28,65 Meter). Auch die Legenden des Käfigs äussern sich ausweichend: Die Spiele können sich schon eng anfühlen, hört man da, sogar ein bisschen klaustrophobisch.
Kenny Graham, Gründer der «Summer Leagues», die den West 4th zu einem Streetball-Hotspot und The Cage einem weltbekannten Geheimtipp für Touristen gemacht haben, zuckt nur mit den Schultern und antwortet, dem grünen Rechteck seien schon «viele Grössen nachgesagt» worden. «Das lieben die Leute ja so an diesem Platz.» Warum mit dem Massband den ganzen Spassverderben, scheint er sagen zu wollen.
Spielszenen aus dem Käfig
Spielszenen aus dem Käfig© Anthony Geathers
Die ungewöhnlichen Abmessungen tragen zur Aura des Ortes bei, aber nicht nur: Sie verändern tatsächlich das Spiel. Wer auf Geschwindigkeit und Wendigkeit setzt, hat ein Problem, denn alle sind so eng zusammengepfercht, dass es sich anfühlt, als wären doppelt so viele Spieler auf dem Feld wie sonst. Der Zaun, der das Spielfeld umschliesst, verstärkt den Eindruck der Enge noch. Der Käfig belohnt diejenigen, die ohne viel Platz gute Würfe oder Rebounds zustande bringen oder die, besser noch, sich selbst Platz verschaffen können in jener Zone, die die Veteranen einst «Death Valley» nannten. Das Spiel hier «körperbetont» zu nennen ist eine gewaltige Untertreibung.
Und da das hier New York ist, sind einige der Zuschauer, die sich von aussen an den Zaun drücken, Zwischenrufer, und sie lassen es dich wissen, wenn du Mist baust. Jason Curry ist der Gründer und Präsident von Big Apple Basketball. Als er klein war, schaute er seinem Vater zu, der im Cage an spontanen Freundschaftsmatches teilnahm, sogenannten Pickup Games. Später spielte Curry selbst und trainierte Spitzenspieler im West 4th. Nach einem Fehler, den er hier machte, dachte er: «Der wäre mir besser an jedem anderen Ort passiert.» Viele Leute täten sich schwer im West 4th, weil der Platz so eng ist, erklärt er. «Es ist fast wie das Gesetz des Dschungels. Man darf in keiner Hinsicht eine Schwäche zeigen, sonst machen sie dich platt.»
Hier zählen Können, Härte und Respekt.
Hier zählen Können, Härte und Respekt.© Anthony Geathers

Der Platz ist eine grosse Bühne

Als Kenny Graham 1976 auf diesen Ort stiess und bei Spontan-Matches mitspielte, spürte er sofort, dass der Platz anders war. Er war als Lebensmittellieferant viel unterwegs. Im Gegensatz zu den typischen Basketballplätzen in New York auf denen nur Leute aus dem Viertel anzutreffen waren, kamen hier Spieler aus allen Teilen der Stadt zusammen – und das heisst: Spieler aus der ganzen Welt. «Du triffst hier auch heute noch Juden, Italiener, Iren, Schwarze, Native Americans, alles Mögliche», sagt Graham. «In keinem anderen Park im ganzen Land hast du so eine Diversität.»
Im letzten Viertel ist die Spannung am Platz und daneben zu greifen.
Im letzten Viertel ist die Spannung am Platz und daneben zu greifen.© Anthony Geathers
Die besondere Lage spielt natürlich auch eine Rolle. Die meisten Outdoor-Basketballplätze New Yorks verstecken sich in entlegenen Winkeln der Stadt, aber der West 4th liegt in Greenwich Village, an der 6th Avenue, einer der grossen Verkehrsadern Manhattans. Die U-Bahn-Station West 4th Street ist ein Knotenpunkt für das öffentliche Verkehrsnetz – ein Ausgang befindet sich gleich neben dem Platz. «Es ist fast, als würdest du mitten am Broadway spielen», meint Jason Curry. «Alle Augen sind auf dich gerichtet.»
Die Spiele hier ziehen schon lange Passanten an. Irgendwann in den Sechzigern gab es schon mal eine Liga, die aber nur ein paar Jahre überlebte. Als einige Trainer entschieden, die West 4th League neu zu organisieren, erkannte Kenny Graham das Potenzial für etwas Grosses. Er heuerte bei der Liga an und stieg innerhalb von zwei Jahren zu ihrem Co-Commissioner und Direktor auf. In diesen Funktionen zeigte sich Grahams Händchen für den Aufbau einer Marke. Er schuf «Kenny Graham’s West 4th Street Pro-Classic» mit eigenem Logo und Merchandising. In den frühen Achtzigern zogen die Summer Leagues immer grössere Namen aus der College-Liga, selbst aus dem Profi-Lager an. Die Sache schaukelte sich hoch: Je höher das Niveau, desto mehr Publikum kam, und so wurden die Namen noch grösser. Sogar Julius Erving alias Dr. J, in den Siebzigern einer der Überflieger der NBA, stopfte damals ein paar Körbe in The Cage.
Das wilde Spiel im New Yorker Käfig brachte zahlreiche lokale Stars hervor.
Das wilde Spiel im New Yorker Käfig brachte zahlreiche lokale Stars hervor.© Anthony Geathers
Schon bald beehrten nicht mehr nur New Yorker Spieler den winzigen Platz. Jason Curry erinnert sich, wie einmal vor etwa zehn Jahren plötzlich Dwight Howard auftauchte – es war zu jener Zeit, als er als aufregendster Spieler der Welt gefeiert wurde –, nur um sich ein Match anzuschauen. Die Popkultur folgte. Die Hollywood-Stars Denzel Washington und Spike Lee waren da. Hip-Hop-Grössen schauen vorbei, und Werbespots für nationale Kampagnen werden hier gedreht. Wer es persönlich nicht auf den West 4th schafft, kann sich dort virtuell austoben: im Videospiel «NBA Street V3» von EA Sports. Die Pandemie zwang den Summer Leagues eine einjährige Pause auf. Wenn die Stadt wieder voller Leben ist, werden sich auch wieder Touristen zu den Stamm-Zuschauern am Käfig gesellen. Graham wird Kappen und Trikots verkaufen an Menschen aus Südkorea, Norwegen und Brasilien und ihnen das Gefühl geben, genau hier im Zentrum der Basketballwelt zu sein.
Zuseher am Zaun an der West 4th Street: Beleidigungen gehören zum guten Ton
Zuseher am Zaun an der West 4th Street: Beleidigungen gehören zum guten Ton© Anthony Geathers

Der Platz ist ein Fluchtort

Jack Ryan wuchs als Basketball-Wilder in Brooklyn auf. Als er zwölf Jahre alt war, konnte ihm kein Gleichaltriger mehr das Wasser reichen, sein vier Jahre älterer Bruder liess ihn bei seinen Freunden mitspielen. Als er auch die an die Wand spielte, fand Ryan, dass es an der Zeit sei, sich in Manhattan zu messen. «Ich sagte mir, okay, mal sehen, wie gut ich wirklich bin», erinnert er sich. Wo er hingehen musste, war klar: in den Park an der West 4th Street. So nahm die Legende von «Black Jack» Ryan in den Achtzigern ihren Anfang.
Ryan wurde auch dafür berühmt, dass er Angebote von Colleges und aus der NBA in den Wind schlug – seine Unreife und eine schwierige Kindheit trugen sicherlich viel dazu bei. Der Kosename seines Vaters für ihn war ein F-Wort, sein eigentliches Zuhause war der West 4th. Black Jack und der Platz waren wie füreinander geschaffen. Einmal flog er wegen zu viel Show aus einem College-Team, aber Streetball funktioniert anders: Im Cage war sein aufreizendes Spiel eine Waffe.
Gleich geht’s los: Zwei Spieler aus der New Yorker Männerliga sind bereit.
Gleich geht’s los: Zwei Spieler aus der New Yorker Männerliga sind bereit.© Anthony Geathers
Gegen Phil Sellers, einen ehemaligen Profi der Detroit Pistons, machte Ryan einmal 44 Punkte. Als ihn ein Freund darauf ansprach, antwortete er: «Wer ist Phil Sellers?» Von dem Hall-of-Fame-Mitglied Chris Mullin, auch eine New Yorker Basketball-Legende, ist das Statement überliefert, Black Jack sei der beste Werfer, den er ausserhalb der NBA je gesehen habe. Hier im West 4th umgab Ryan eine Familie, das spürte er. Hier war Beständigkeit: Dass der Punktezähler Omar vor den Spielen immer viel zu viel billiges Bier trank und sich prompt verzählte, sodass Graham ihn korrigieren musste, änderte nichts daran, dass Omar weiterhin für die Punkte verantwortlich blieb. Ryan gefiel das. Die Sticheleien des Sprechers, der ballettgleiche Wettkampf, Kenny Grahams strenge Regeln gegen Gewalt – das alles sorgte für Stabilität in einer sonst völlig instabilen Welt.
Jack Ryan war MVP («most valuable player» – der wertvollste Spieler) in einer der Ligen, auf seiner Wade prangt ein Tattoo des West-4th-Logos. Und er trifft sich immer noch mit Leo, Sherm, Doc – all den Männern, mit denen er Freundschaft geschlossen hat in seinen fast vierzig Jahren auf dem Platz. «Jetzt, da ich älter bin, ist das meine Familie», sagt Ryan. «West 4th Street ist mein zweites Zuhause. Mein Hinterhof.»

Der Platz ist eine Gemeinschaft

Das mag seltsam klingen, denn das Spiel ist so körperbetont, dass es sich an der Grenze zu offener Feindseligkeit bewegt. Nach einigen Schlägereien hat Kenny Graham Nulltoleranzregeln aufgestellt. Wer gegen sie verstösst, kann des Platzes verwiesen werden. Aber es gibt eine grosse Wertschätzung zwischen den Spielern. Alle mühsam erarbeiteten, liebevoll gehegten Animositäten verpuffen in dem Moment, in dem sich alle zur nächsten Runde, zum nächsten Match versammeln.
Zwei Schülermannschaften teilen den Platz, der viel kleiner ist als normal.
Zwei Schülermannschaften teilen den Platz, der viel kleiner ist als normal.© Anthony Geathers
«Bei aller Härte herrscht ein unglaublicher Kameradschaftsgeist», sagt Jason Curry. «Jedem, der auf den Platz geht, wird Respekt entgegengebracht.» Die Leute passen aufeinander auf. Die Spiele im Käfig sind für viele ein wichtiger Teil ihres Lebens. 70 Teams treten hier in Ligen gegeneinander an: je 20 für Männer und High-School-Schüler, 16 für Frauen, 14 für Nachwuchsteams. Graham, heute 69, zeigt keine Ermüdungserscheinungen, obwohl er erklärt, im Ruhestand zu sein. Im West 4th, so sagt er, «sieht man die Früchte meiner Arbeit». Im Moment versucht er die Magie dieses Ortes, die multikulturelle Mischung des Käfigs in die Welt hinauszutragen. Er arbeitet mit Offiziellen aus der Dominikanischen Republik an einem Austauschprogramm.
Für ihn war das während der Pandemie vielleicht auch ein guter Zeitvertreib. Bald jedoch wird alles wieder so sein wie früher: Die Spieler werden auftauchen, so verlässlich, dass man die Uhr nach ihnen stellen könnte. Die Fans, die während der Summer Leagues Abend für Abend denselben Platz am Zaun besetzen, werden ihre Posten wieder einnehmen. Den Käfig gibt es jetzt schon so lange, dass er Teil von Familiengeschichten geworden ist: Generationen kommen gemeinsam. Eltern reichen die Erfahrung des Spielens oder Zuschauens im West 4th wie ein Erbstück feierlich an ihre Kinder weiter. Der Platz ist also noch etwas: eine Zeitkapsel.
All-Star-Games als Höhepunkte: Die Besten der Saison spielen gegeneinander.
All-Star-Games als Höhepunkte: Die Besten der Saison spielen gegeneinander.© Anthony Geathers
Mit den Jahrzehnten verändert sich Manhattan, es verwandelt sich immer wieder, nimmt ständig neue Formen an. Gebäude werden abgerissen und gebaut, Restaurants wechseln den Besitzer und die Identität, Parks verwahrlosen und werden wiedergeboren. Aber dieses kleine Rechteck, das da irgendwie in Greenwich Village hineingequetscht wurde? Dieser Käfig, so scheint es, ist für die Ewigkeit.

Streetball vom Feinsten

Am 18. Juli steigt in Berlin das Finale von Red Bull Half Court.
Sechs Spieler, ein Korb und jede Menge Action: Sei dabei, wenn in Berlin Deutschlands beste 3-gegen-3-Streetball-Teams zur nationalen Endrunde antreten. Die Gewinner reisen zum Weltfinale nach Russland und treffen auf die Sieger aus über 20 weiteren Nationen. Detaillierte Infos über das Turnier: redbull.com
Basketball