Rap 💯
Über den neuen Berliner Straßenrap-Untergrund wurde im letzten Jahr schon so ziemlich alles geschrieben, gesagt und gemutmaßt, sollte man meinen. Nicht ganz zu Unrecht – eine junge Generation hat dem Genre neue Energie gegeben und es geschafft, Street- und Ticker-Talk immer wieder neu zu erfinden.
Und nun kommt Berlin-Mitte ins Spiel. Ausgerechnet das Viertel, das oberflächlich eher für teure Boutiquen, Agentur-Geschäftigkeit, horrende Mieten und, na ja, großstädtische Ordnung bekannt ist. Aber es gibt Risse im gentrifizierten Asphalt, und Lucio101 macht mit jedem seiner Songs darauf aufmerksam.
Lucio vermittelt uns das Gefühl, gar keinen Anlauf zu brauchen. Aus dem Stand weiß er, was er kann und wofür er als Künstler stehen möchte. Er kennt seine Stärken: Seine dunkle Stimme kommt mit Nachdruck aus dem Bauch, nie angestrengt, nie gepresst. Seine Flows sind sauber konstruiert, die Patterns abwechslungsreich. Lucio hat sich mit Raptechnik im Detail befasst, das hört man – und er hat verinnerlicht, dass Rap Platz braucht, dass Doubletime-Passagen erst dann gut wirken, wenn sie im Kontrast zu langsamen Parts stehen.
Lucio101 weiß nicht nur im Rap um die Wichtigkeit der Dosierung. Das liegt vielleicht auch am täglichen Umgang mit Straßenapothekern rund um den Rosenthaler Platz, der das Zentrum seines Schaffens ist. Musikalisch machte er mit seinem Charlottenburger Weggefährten Nizi19 auf sich aufmerksam, als die beiden 2019 das Mixtape „1019“ veröffentlichten, immer wieder ergänzt um den Londoner Omar101, der ebenfalls seit Jahren zum engen Freundeskreis zählt.
Schon hier, im Februar 2019, war die Sache klar: Aus wenig soll viel gemacht werden, der Kontostand am besten siebenstellig, das Auto neu und groß und nebenbei wollte Lucio „noch die Szene in Mitte“ retten. Plus „Wehh“-Adlib, plus bedrohlicher Drill-Turnup, plus deutliche Anzeichen der innovativen, verschobenen Video-Ästhetik, in der die Realität immer wieder Brüche erfährt. Da bahnte sich was an bei Lucio, der schon als Teenager bei seinem ersten Song „A oder B“ unüberhörbares Talent bewies.
Es ist nicht ganz einfach, aus dieser starken Crew einzelne Charaktere hervorzuheben, und lange wollte man das auch gar nicht. Gerade Lucio und Nizi ergänzten sich perfekt als Erzähler verschlüsselter Geschichten, während Omars englischsprachige Parts für einen Flavour sorgten, den Berliner Straßenrap kaum kannte.
Als dann noch die 439-Crew um Japo, Intus sowie Karamel für den Allstar-Track „439x1019“ in den Ring stiegen, war das Ergebnis nicht weniger als eine Untergrundhymne:
In diesem Jahr stehen aber alle Zeichen auf Solo-Erfolg. Am 18.9. erscheint „Mittendrin“, das erste Album von Lucio101. Produziert von Brasco, nocashfrompartens und Rozay wird noch tiefer als bisher in die kleine, erbarmungslose Welt rund um den Rosenthaler Platz eingetaucht: Hier der szenige Turbokapitalismus mitsamt 5-Euro-50-Kaffee, dort die alles begründende Freundschaft, Loyalität und das Streben nach mehr. Mit allen Mitteln. Und mindestens seinem Ziel, die Mitte-Szene zu retten, kommt Lucio damit schon jetzt ein großes Stück näher.