Entwickelt in der Schweiz, im Einsatz auf den Weltmeeren: ARBR-Yachten
© Olaf Pignataro/Red Bull Content Pool
Segeln

Die Positionen einer AC75-Crew

Für den America’s Cup 2024 wurden die Besatzungen auf acht Personen beschränkt (2021 waren es noch elf). Es gilt also, die Aufgaben kreativ zu verteilen.
Autor: Andy Rice
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Steuergruppe

Sie hält sich eher im hinteren Teil des Bootes auf. Sie kon­trolliert das Steuer und die Höhe über Wasser, ausserdem passt sie ständig die Segel an, um die Höchstgeschwindig­keit herauszuholen. Taktische Entscheidungen, wie man sich auf dem Kurs positio­niert und wann man sich mit den Gegnern anlegt, werden hier getroffen.
1./2. Steuermann
Der Steuermann steuert, klar. Er ist mit den anderen über Funk verbunden und über­nimmt daher auch oft Auf­gaben eines Kapitäns, der das Kommando innehat, Manöver ansagt und koordiniert. Histo­risch gab es immer nur einen Steuermann, der zwischen zwei Lenkungen von einer Seite des Bootes zur anderen wechselt, während der Lotse vorübergehend die Steuerung übernimmt. 2021 überraschte das italienische Team Luna Rossa mit zwei Steuermän­nern, einem auf jeder Seite. Pietro Sibello – früher Stra­tege bei Luna Rossa, nun bei ARBR – erklärt: „Wenn man während eines Manövers auf der Rückseite einer AC75 herumrennt, kann man schon leicht von Bord gehen.“ Die Doppelbesatzung schmälert zwar dieses Risiko, wirft aber ein neues Problem auf: Wer hat wann das Kommando? Eine kommunikationstechnische Denksportaufgabe mit Vor­- und Nachteilen.
3. Lotse
Der Lotse kümmert sich um den Tragflächenwinkel auf je­der Seite des Bootes. Meistens befindet sich nur das leeseitige Foil (also jenes auf der dem Wind abgewandten Seite) im Wasser, das luvseitige, also windzugewandte, schwebt darüber und balanciert den Wind gegen die Segel aus. Bei langsamen Manövern liegen jedoch beide Tragflächen im Wasser, um zusätzlichen Auftrieb zu ermöglichen. In flachem Gewässer zu segeln erfordert weniger häufige Kalibrierung, in rauen Gewäs­sern hingegen gibt es ständig etwas anzupassen.
4. Grosssegeltrimmer
Kleine Segelkunde: Die wichtigste Quelle für Wind­ kraft auf einer AC75 ist das doppelseitige Grosssegel. Es hat eine Fläche von 145 Quadratmetern und ist auf einem 26,5 Meter hohen Kohlefasermast gehisst. Vorn auf dem Boot befindet sich ein mit 90 Quadratmetern deutlich kleineres Segel: die Fock. Die Lücke zwischen Fock­ und Grosssegel wird als „Schlitz“ bezeichnet. Luft be­schleunigt durch den Schlitz hindurch über die Leeseite des Grosssegels und steigert die Wirkung des Windes auf der anderen Seite. Die Trim­ mer müssen die Beziehung zwischen Gross­ und Fock­ segel jederzeit unter Kontrolle haben, ebenso wie die Form des Grosssegels, damit Gleich­ gewicht und Geschwindigkeit optimal passen. Bei leichteren Winden geben die Trimmer den Segeln Tiefe, aber wenn die AC75 in den Foilingmodus übergeht, also über dem Was­ ser fliegt, fällt der Strömungs­ widerstand abrupt ab, und das Boot wird von den Segeln übermannt. Der Trimmer ver­ engt nun rasch das Profil des Grosssegels, damit dieses den Wind durchschneiden kann.

Kraftgruppe

Die immensen Sauerstoff­ reserven und körperlichen Kräfte dieser Gruppe müssen ständig über Handwinschen in Energie für die Hydraulik des Bootes übersetzt werden. Je grösser die Wattleistung, desto exakter kann die Steuergruppe die Segel trimmen.
5./6./7./8. Grinder/Radfahrer
Sie heissen „Grinder“, weil die Griffe, mit denen sie die Winschen (Handseilwinden) zum Trimmen der Segel und zur Bewegung des Baumes antreiben, aussehen und klingen wie riesige Kaffee­ mühlen. Seit dem America’s Cup 2017 ist aber alles an­ ders. Damals entwickelte das Emirates Team New Zealand (ETNZ) heimlich ein pedal­ betriebenes Boot mit Stand­ fahrrädern an Deck. Die Rad­ fahrer erzeugten mit ihren Beinen eine circa 20 Prozent höhere Wattleistung und hat­ ten dabei die Hände frei, um Segel zu bedienen. Nach dem Sieg des ETNZ wurde Bein­ kraft für 2021 verboten, aber 2024 kehrt sie zurück. Beim Trainingslager der Briten wurden Drehzahlen gemes­ sen, die der Tour de France nahekommen. Das Schweizer Team ARBR hält sich noch be­ deckt, hat aber bereits einen Olympia­Radsportler an Bord, und die Crew trainiert bereits regelmässig auf Rädern.
Steuermann Maxime Bachelin

Steuermann Maxime Bachelin

© Samo Vidic/Alinghi Red Bull Racing

Mit seinen knapp 25 Jahren ist Steuermann Maxime Bachelin der Jüngste im Team. Zum ersten Mal segelte er mit acht, es handelte sich um ein winziges 2,4-Meter-Dingi (Boot mit Ein-Mann-Betrieb) mit der Bezeichnung Optimist, eine schwimmende Schuhschachtel im Vergleich zur geschmeidigen ARBR AC75, über die er jetzt Herr ist. Dennoch: Die Grundlagen guten Steuermannhandwerks stammen alle aus dieser prägenden Zeit. „Im Optimist lernt man das Gespür für ein Boot“, sagt Bachelin. „Man lernt, wie man den Wind auf dem Wasser erkennt, und entwickelt fast einen sechsten Sinn für die Umgebung.“ Seit damals hat er sich allmählich aufwärts bewegt. In 4-Meter-Dingis mit 2-Mann-Besatzung lernte er die Bedeutung von Kommunikation und einer gewissen Telepathie zwischen Steuermann und Crew. Für 10 Knoten reichte das völlig, doch bei 50 Knoten geht die Freiheit, taktische Besprechungen abzuhalten, gegen null. Deshalb trainieren Segler wie Bachelin ihre Reaktionszeit ähnlich wie Formel-1-Fahrer. „Wir verbringen Stunden im Simulator und üben Situationen, die uns im Bewerb begegnen könnten – zum Beispiel für die Reaktion auf Lichtwechsel. Alles, was uns schneller macht, ist gut für un- sere Leistung auf dem Wasser.“
Lotse/Trimmer Bryan Mettraux

Lotse/Trimmer Bryan Mettraux

© Samo Vidic/Alinghi Red Bull Racing

Genau kann er sich nicht er- innern, aber Bryan Mettraux vermutet, dass er schon vor seinem ersten Geburtstag mit dem Segeln begann. „Mein Vater hat uns immer auf seinem Segelkreuzer mitgenommen“, erzählt der heute 32-Jährige. „Sportlich habe ich dann in einem 420er angefangen.“ Das ist ein 4,2-Meter-Übungsdingi. Seinen ersten hochkarätigen Bewerb bestritt Mettraux, als er einem Übungszentrum beitrat und dort an Eins-gegen-eins-Matches teilnahm, wie sie auch im America’s Cup stattfinden. „Meistens bin ich auf der GC32 gesegelt, einem Katamaran mit Hydrofoils. Dieses Boot ist nicht so schnell oder so fortschrittlich wie die ARBR AC75, aber gut geeignet, die eigene Reaktionszeit zu verbessern.“
Beim Trimmen ist etwa die Hälfte Instinkt und die andere ein Blick auf die Daten auf dem Bildschirm.
Bryan Mettraux, Lots/Trimmer
Mettraux bereitet sich sowohl auf die Rolle des Lotsen als auch auf die des Grosssegeltrimmers vor. „Das hilft dir, zu verstehen, wie deine Funktion mit anderen an Bord zusammenpasst“, sagt er. „Und es ist immer besser, wenn Leute mehr als eine Sache können.“ Wird beispielsweise der Lotse zur Energieerzeugung benötigt, kann der Steuermann die Tragflächen ausrichten. Beim Trimmen, meint Mettraux, sei etwa die Hälfte Instinkt und die andere ein Blick auf die Daten auf dem Bildschirm, im Laufe der Zeit zunehmend Ersteres. Die Daten würden schliesslich nur die jüngste Vergangenheit abbilden. Viel wichtiger sei es, im Eifer des Gefechts zu erahnen, was die nahe Zukunft bringt: „Manchmal spürt man einfach, was das Boot braucht.“
Kraftgruppe: Nils Theuninck

Kraftgruppe: Nils Theuninck

© Samo Vidic/Alinghi Red Bull Racing

Seine prägenden Segeljahre verbrachte Nils Theuninck als Einzelkämpfer. Er begann im Optimist und arbeitete sich dann zum schwergewichtigen 4,5-Meter-Finn vor, einem Dingi, das Seglern brachiale Kraft und Intelligenz abverlangt und so manchen America’s-Cup-Rekruten geformt hat. 2021 übernahm Theuninck die Führung in der Finnsegler-Weltrangliste und errang Bronze bei den Europameisterschaften. Zwar platzte sein Traum, die Schweiz bei den Olympischen Spielen in Tokio zu vertreten, doch für den nächsten America’s Cup ist der 26-Jährige fest entschlossen, sein Heimatland stolz zu machen. „Da tritt man gegen die besten Segler der Welt an, auf den fortschrittlichsten Booten, die je gebaut wurden“, sagt er. Um im Maschinenraum der ARBR AC75 sein Bestes geben zu können, trimmt er sich zu immer höheren Graden der Fitness und der Kraft. Als Hüne mit 1,94 Metern und 93 Kilo weiss er, dass alles vom richtigen Leistungsgewicht abhängt. Ausserdem braucht es einen klaren Kopf, um taktische Entscheidungen zu treffen und das Boot zu Bestleistungen anzutreiben. Im Finn-Dingi konnte er sich darauf perfekt vorbereiten.
Vom olympischen Ruderer zur Kraftgruppe im Segeln: Augustin Maillefer

Vom olympischen Ruderer zur Kraftgruppe im Segeln: Augustin Maillefer

© Samo Vidic/Alinghi Red Bull Racing

Früher hasste Augustin Maillefer den Wind. In seiner früheren Sportart, dem olympischen Rudern, war das der Feind. Jetzt, als Segler, hat er eine gute Brise zu schätzen gelernt. Nachdem er bei Olympia 2012 und 2016 die Schweiz vertreten hatte in Rio schrammte er knapp an der Medaillenchance vorbei –, rekrutierte ihn ARBR. In den vier- oder achtköpfigen Rudermannschaften sei Gleichtakt das Wichtigste, sagt Maillefer, auf der ARBR AC75 erlebe er aber noch viel stärker die Symbiose der Teamarbeit.
Beim Rudern konzentriert man sich einfach darauf, das Beste aus sich rauszuholen.
Augustin Maillefer, Kraftgruppe
„Beim Rudern verschwendet man keine Energie darauf, sich über die anderen im Boot Gedanken zu machen, man konzentriert sich darauf, das Beste aus sich rauszuholen“, erklärt der Neuzugang in der Kraftgruppe, der im April dreissig wird. „Beim Segeln müssen wir uns viel genauer bewusst machen, was die anderen für eine Funktion haben, wie sich das auf die Gesamtleistung auswirkt und was wir tun können, um einander die Arbeit zu erleichtern. Am Ende des Tages bin ich einfach hier, um meine Kraft zur Verfügung zu stellen. Dank meiner Rudererfahrung ist mein Körper gewohnt, auch bei Schmerzen Leistung zu erbringen.“
Verantwortet die gesammelten Telemetriedaten: Andrea Emone

Verantwortet die gesammelten Telemetriedaten: Andrea Emone

© Samo Vidic/Alinghi Red Bull Racing

Die 26-jährige Andrea Emone ist für die Telemetriedaten verant- wortlich, die die vielen Sensoren rund um die ARBR AC75 sam- meln. „Ich bin in der olympischen Windsurferklasse angetreten, habe Luft- und Raumfahrttechnik studiert und bin Master in nume- rischer Strömungsmechanik“, sagt sie. Ihre Expertise verleiht ihr auch Gewicht in einer heiklen Frage: Ist die ARBR AC75 noch ein Boot? „Es ist kein Flugzeug“, sagt sie, „und es ist auch kein traditionelles Boot. Das Segeln beruhte immer schon auf der Erzeugung von Auftrieb, aber mit vertikalen Segeln. Die ARBR AC75 erhebt sich auch horizontal aus dem Wasser. Aber sie ist und bleibt ein Boot.“ Ein Boot, sollte man hinzufügen, das sich doppelt so schnell fortbewegen kann wie die Gebrüder Wright beim ersten Motorflug der Welt 1903.
Im Wiedererkennen seien Menschen stärker als Maschinen, so Pietro Sibello.

Im Wiedererkennen seien Menschen stärker als Maschinen, so Pietro Sibello.

© Samo Vidic/Alinghi Red Bull Racing

Ein Computer kann in einer Se- kunde Tausende von Berechnun- gen durchführen. Ein Mensch? Eine oder zwei. Deshalb, so Pietro Sibello, sei der Computer auch viel besser in der Flug- steuerung als der Mensch. „Eine ARBR AC75 zu segeln ist, wie ein Flugzeug zu fliegen“, findet der 43-jährige Italiener. „Aber da wir nicht mit Computern arbeiten dürfen, teilen wir die Arbeit auf die Crewmitglieder auf. Sie müs- sen perfekt im Takt sein.“ Womit wir wieder beim Orchesterver- gleich wären. „Rechner können präziser und unmittelbarer re- agieren, und natürlich wären wir oft schneller, wenn alle Systeme automatisiert wären. Ein Mensch ist dort besser, wo es auf Erfah- rung ankommt: Wiedererkennen von Situationen, Vorwegnehmen von Bewegungen, Identifizieren des Windverhaltens anhand des Wassers. Daher gewinnt immer noch der Mensch das Rennen. Vorerst zumindest.“